Eindrucksvolle Lesung mit Ausstellungsstücken zum Thema »Flucht und Vertreibung«
Ende November fand im Café des Regionalmuseums Kaufungen eine besondere Veranstaltung statt. Die Lesung und Diskussion zu dem Buch „Schuld und Leid. Das Trauma von Flucht und Vertreibung. 1945-2022“ der ehemaligen ARD-Journalisten und Fernsehkorrespondenten Thomas Kreutzmann und Werner Sonne zog zahlreiche Besucherinnen und Besucher an. Bürgermeister Arnim Roß und Museumsleiter Hauke Homeier begrüßten den Autor Thomas Kreutzmann sowie das interessierte Publikum zu einem eindrucksvollen Abend. Kreutzmann las Auszüge aus seinem Buch, während Homeier ergänzend thematisch passende Ausstellungsstücke präsentierte und von Zeitzeugenberichten aus Kaufungen erzählte. Diese verbanden Kreutzmanns Schilderungen über das Trauma von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte mit der Geschichte Kaufungens und schufen so einen spannenden lokalen Bezug.
Die Veranstaltung fand im Rahmen des Kaufunger Friedenspfades statt, der einen analogen sowie virtuellen Rundgang zu Erinnerungsstätten in Kaufungen bietet und somit von der Vergangenheit von Krieg und Frieden im örtlichen Gemeindeleben zeugt. „Friedensarbeit hat in Kaufungen eine lange Tradition und mit der heutigen Veranstaltung gehen wir dabei einen weiteren Schritt“, betonte Arnim Roß in seiner Begrüßungsrede.
Das Buch thematisiert, wie Deutschland mit seiner Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus in Mittel- und Osteuropa umgeht, und beleuchtet zugleich das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945. Die Autoren spannen dabei einen Bogen bis in die Gegenwart, indem sie die Erfahrungen russlanddeutscher Aussiedler und der seit 2021 vor dem Angriffskrieg des Putin-Regimes nach Deutschland geflüchteten Ukrainer einbeziehen.
Am Abend der Lesung erweckte Museumsleiter Hauke Homeier die historischen Erzählungen von Thomas Kreutzmann für das Kaufunger Publikum auf eindrucksvolle Weise zum Leben. Er präsentierte Ausstellungsstücke, die unter anderem einen Bezug zu den Sudetendeutschen aufwiesen – der größten Gruppe von Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ober- und Niederkaufungen kamen. Laut Homeier habe 1946 ein Achtel der Bevölkerung von Oberkaufungen aus Vertriebenen bestanden, während in Niederkaufungen der Anteil sogar bei etwa einem Sechstel gelegen habe. Zu den gezeigten Exponaten zählten ein Holzschild mit der Jahreszahl 1630, eine Flüchtlingskartei, ein Fluchtkoffer, eine Weihnachtsmannfigur und eine Schlagball-Fahne. Diese Gegenstände machten die Erfahrungen der nach Kaufungen Vertriebenen auf greifbare Weise spürbar:
Das Holzschild diente als Markierung dafür, dass der Besitzerfamilie seit 1630 bis zu ihrer Vertreibung ein Hof im Sudetenland gehörte und symbolisiert so die lange Geschichte und tiefe Verbundenheit zwischen ihnen und ihrer Heimat. Der Fluchtkoffer zeigt eindrücklich, mit wie wenig Hab und Gut die Vertriebenen in Deutschland ankamen. Je nach Herkunftsregion konnten die Sudetendeutschen lediglich 20-50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, wobei Wertgegenstände und Besitzurkunden im Heimatland zurückgelassen werden mussten. „Das war für den Neustart selbstverständlich ein harter Schlag“, merkte Homeier an.
Die Schlagball-Fahne wiederum war laut Homeier der Preis für „den ersten Sieger der Schlagballwettkämpfe der Volksschulen des Landkreises Kassel“. Das Gewinnerteam stammte aus der Ernst-Abbe-Schule in Oberkaufungen und wurde von Max Kukis trainiert, einem Lehrer, der aus Ostpreußen geflüchtet war. Kukis brachte innovative Ansätze in den Sportunterricht ein und entwickelte mit großer Hingabe neue Geräte und Methoden. Sein Name war vielen im Publikum wohlbekannt, und Homeier hob ihn als Beispiel dafür hervor, dass „die Aufnahme von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen ein Fortschrittsmotor sein kann und langfristig immer einen Gewinn für die Aufnahmegesellschaft darstellt.“ Zusätzlich hob Thomas Kreutzmann hervor, dass die nach Deutschland Vertriebenen eine wahrhafte „Infusion“ für die deutsche Wirtschaft in den 50er bis 70er Jahren darstellten und so das Wirtschaftswunder ermöglichten.
Zum Abschluss der Lesung richtete Kreutzmann einen Appell an das Publikum: Die Vertriebenen könnten nur dann optimal zur Gesellschaft beitragen, wenn sie sich auch von ihr akzeptiert fühlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vertriebenen von vielen deutschen Gastgebern abfällig als „Rucksack-Deutsche“ bezeichnet, so Kreutzmann. Heute existiere in Deutschland ein unterschätzter Anti-Slawismus, der dazu führe, dass sich die Russlanddeutschen zunehmend von der deutschen Mehrheitsgesellschaft entfremden und mehr russische als deutsche Medien konsumieren. Dem könnten wir nur entgegenwirken, indem wir alle dafür sorgten, dass sie sich in Deutschland angenommen fühlen.